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Rezension:

+++ Erstveröffentlichung im Abaküs(s)chen - Mitgliederzeitschrift des IFRK-eV-Baden-Württemberg (Initiative zur Förderung Rechenschwacher Kinder e.V.), Ausgabe: August 2004 +++


Wehrmann, Michael - Qualitative Diagnostik von Rechenschwierigkeiten im Grundlagenbereich Arithmetik.

Verlag Dr. Köster, Berlin 2003, ISBN 3-89574-474-3 (Dissertation)

Buchinfo des Autors Michael Wehrmann (IML-Braunschweig)

Michael Wehrmann beruft sich in seiner Dissertation auf die Mathematikdidaktiker Radatz, Lorenz und Kutzer, deren Arbeiten er als wesentliche Grundlage seines "kognitionspsychologisch orientierten Diagnose- und Förderkonzeptes" bezeichnet. Wichtige Bezugspunkte für seinen Ansatz, der auf dem förderdiagnostisch begründeten individuellen Lehr-/Lerndialog aufgebaut ist, sind die Forschungsergebnisse der Arbeitsgruppe um den US-Amerikaner Herbert P. Ginsburg (1997, 1998), Columbia University, New York.

Einen Streit um die Definition von Rechenschwierigkeiten hält der Autor für obsolet, da sowohl durch die Verwendung einer Bezeichnung wie Rechenschwäche oder Dyskalkulie oder ähnliches wie auch durch eine phänomenologische Abgrenzung der Symptomatik gegenüber einer "Leistungsnorm" kein Erkenntnisgewinn oder Erkenntnisausgangspunkt zu erreichen ist. Er knüpft mit seinem Ansatz an die konkreten Rechenschwierigkeiten der Kinder an, die er in den Fällen vorfindet, wo die schulischen Anforderungen im Fach Mathematik für einzelne Kinder zum Dauerproblem werden. Er befindet sich damit von Anfang an auf einer wissenschaftlich nachvollziehbaren und unmittelbar praktisch nutzbaren Grundlage pädagogischen und therapeutischen Handelns.

Dabei geht Wehrmann - in Anlehnung an Ernst Mach (S.5) - davon aus, daß "Mathe das einfachste Fach" ist. Daran anschließend stellt er fest, daß der von vielen Kindern betriebene hohe und oft vergebliche Arbeitsaufwand für die Bewältigung einfachster Rechenaufgaben, schlicht der Tatsache zu verdanken ist, daß diese sogenannten rechenschwachen Kinder wesentliche Grundgedanken des mathematischen Systems noch nicht verstanden haben. Schlußfolgerung: An diesen im Einzelfall unvollständigen und/oder falschen Gedanken muß konsequent in der richtigen Reihenfolge individuell angeknüpft und weiter gearbeitet werden. Damit zieht der Autor die einzig richtige und wissenschaftlich vertretbare Konsequenz.

Der Autor stellt zunächst die "schuldidaktischen Kernpunkte der Grundschularithmetik" dar und diesen die "subjektive Mathematikwahrnehmung von Kindern" gegenüber. Er will die defacto im Einzelfall existierende Kluft zwischen ihnen detailliert aufzeigen, um daraus die konkrete Förderung ableiten zu können. Oft halten LehrerInnen dies für eine Banalität, mit der man sich nicht zu beschäftigen brauche, weil diese Tatsache bekannt sei. Wer so denkt, möge sich dennoch darüber wundern, daß diese Tatsache im Detail von vielen gängigen Förderkonzepten (auch innerhalb der Schulen) für nebensächlich gehalten wird oder zumindest im praktischen Teil der dort vorgesehenen Förderung fast keine Rolle mehr spielt. Der Autor stellt eben diese diagnostische Aufklärung der Zusammenhänge im individuellen Fall in den Vordergrund seines Konzepts. Wie sollte es sonst möglich sein, konkrete Aussagen über die individuellen Schwierigkeiten einzelner Kinder machen zu können? Alles andere (vgl. die von Wehrmann kritisierten "Neurofunktionalen Defizitansätze", S.63-65) liefe am Ende wieder auf die stigmatisierende, falsche Behauptung hinaus, die Kindern hätten eine an ihnen auffindbare "Schwäche", die - ganz getrennt von ihren konkreten Mathematikproblemen - jene Probleme überhaupt erst hervorrufen würde. Unspezifische Rechentrainings und/oder Heilbehandlungen sind die Folge. Wehrmann tritt solchen falschen Vorstellungen durch die Darstellung seines Konzepts unmittelbar entgegen und hebt sich dadurch wohltuend von so manchem eklektizistischen, jegliche außermathematischen und esoterischen Strömungen vereinnahmenden Umgang mit Aussagen über Rechenschwierigkeiten ab.

Anhand von Fällen aus seiner eigenen zehnjährigen Tätigkeit als Therapeut im Zentrum-zur-Therapie-der-Rechenschwäche-Berlin (ZTR) zeichnet Wehrmann im Hauptteil (S.77-195) seines Buches ein realistisches Bild seiner diagnostischen Vorgehensweise. Neben der förderdiagnostischen, auf das einzelne Individuum bezogenen Grundausrichtung des Buches stellt die Veröffentlichung dieses authentischen Materials eine seiner Hauptstärken dar. Schade ist, daß Wehrmann Mängel seiner Gesprächsprotokolle, die vor dem Hintergrund der Technik des "Klinischen Interviews" (Ginsburg), auf die er sich beruft, offensichtlich sind, in seiner Kommentierung nicht selbst beim Namen genannt hat:

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Die angewandte Fragetechnik lenkt häufig die Aufmerksamkeit des Kindes auf das Ergebnis anstatt auf seine Rechenstrategie.

Hypothesen des Interviewers über das mathematische Denken des Kindes werden nicht systematisch getestet.

Teilweise werden stark suggestive Fragetechniken verwendet.

Wehrmann tendiert zu negativen Urteilen über Fähigkeiten des Kindes (d.h. was es nicht kann), anstatt seine Denkstrategien (positiv) nachzuzeichnen (d.h. auf welche Weise es versucht, eine Lösung zu finden).

Teilweise werden in den abgedruckten Interviews diagnostische Artefakte erzeugt, d.h. Befunde, die nicht das originäre Denken des Kindes widerspiegeln, sondern durch die Fragetechnik des Interviewers erst induziert worden sind.

Insbesondere für diejenigen Leser, die mit der Technik des "Klinischen Interviews" noch nicht sehr vertraut sind, mag es aufgrund der unkommentierten Gesprächstechniken schwierig sein, zu erkennen, daß das "Klinische Interview" die adäquate Gesprächstechnik (Methode) für eine individuelle Denkstrukturanalyse ist, die wiederum effektive Förderung erst ermöglicht.

Im letzten Kapitel seines Buches (S.197-205) stellt Wehrmann alle seine Ausführungen in einen Gesamtzusammenhang von mathematischer Förderung innerhalb und außerhalb der Schule. Er beschreibt die konsequente Umsetzung der individuellen mathematischen Diagnostik (Lernstandsanalyse) in einen Förderplan als einzig sachgerechte und optimierte Methode zur Förderung rechenschwacher Kinder. Als Grundfehler schulischer Didaktik, die bis heute in der realen Praxis zugleich weitestgehend auf förderdiagnostisches Vorgehen verzichtet, verweist Wehrmann auf die Vermittlung von Verfahrenstechniken zur Aufgabenbewältigung. Mathematik wird von Schülern als Regelwerk zur Erzielung von Treffern bzw. richtigen Antworten verstanden, spiegelbildlich zu den gestellten Anforderungen, die unmittelbar auf die Bewertung eben solcher Leistungen abzielen. Dies verweist auf notwendige Rahmenbedingungen für eine sachgerechte Intervention bei Mathematikproblemen:

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"Bestimmte Umgangsweisen der Schüler sind eine Reaktion auf diese schulischen Anforderungen. Um an dieser schwierigen Ausgangssituation anzusetzen, sollte ein mathematischer Lehr-/Lernprozess, in dem gravierende Rechenschwierigkeiten überwunden werden sollen, folgenden Rahmenbedingungen genügen:

Befreiung von Notenvergabe und Notendruck, es droht keine Sanktionierung,

Entbindung vom Zeitdruck, Anpassen an die individuelle Lerngeschwindigkeit und

Schaffen eines Vertrauensverhältnisses, in dem Schüler ihre Rechenwege offenlegen." (S.199)

Wehrmann entwirft ein klares Muster des therapeutischen Settings bzw. didaktischer Prinzipien für Förderunterricht, die unbedingt eingehalten werden müssen, um einen Erfolg mathematischer Förderung nicht von Anfang an zu torpedieren - womöglich mit den gleichen Mängeln, die von Beginn an erst zu den Rechenschwierigkeiten geführt hatten. Eine solch stringente Darstellung des Problems wurde bisher von Seiten der deutschen Mathematikdidaktik noch nicht geliefert. Wehrmann selbst sieht sich als Therapeut nicht in qualitativer Weise als etwas Besonderes im Gegensatz oder Unterschied zu einem idealiter vorzustellenden Lehrer. Er verweist ausdrücklich auf die Identität seines förderdiagnostischen Förderkonzepts für Rechenschwierigkeiten mit den anzumahnenden Maßstäben für einen idealen regulären Mathematikunterricht. Wehrmanns Aussagen sind zu unterstützen und sollten auch von der bisherigen deutschen Mathematikdidaktik sowie Rechenstörungs- bzw. Dyskalkulieforschung in Deutschland zur Kenntnis genommen werden. So mancher Streit zwischen lehramtsorientierten Professoren einerseits und quasimedizinisch orientierten Privattherapeuten andererseits, was die sogenannte "Dyskalkulie" angeht, erweist sich angesichts dieses Konzepts als substanzlos und überflüssig!

Die wenigen vorkommenden, wohl versehentlich bis zur Drucklegung übersehenen Begriffsverwechslungen sollten dem interessierten Leser nicht zum Hindernis für die Lektüre werden. Kritikable Punkte in Wehrmanns Buch sind, neben der weiter oben angeführten Kritik an den Mängeln in der Durchführung seiner Interviews:

Die von älteren Grundschullehrplänen her bekannte, irreführende "didaktische Vereinfachung" der zu vermittelnden Bedeutung der Kommaschreibweise zur angeblichen Erleichterung von Größenumrechnungen (S.21).

Die durch keinen ersichtlichen förderdiagnostischen Nutzen begründbaren Wertpunktetabellen (S.193-195), erinnernd an Wertpunktetabellen bei IQ-Tests, die Wehrmann als Hilfsmittel für die Zusammenfassung der Ergebnisse seiner qualitativen Untersuchungen empfiehlt.

Was aber unbedingt für das Buch spricht und weshalb kein Lehrer oder Therapeut im Bereich mathematischer Förderung darauf verzichten sollte, es zu lesen, ist, daß es das erste Buch im deutschen Sprachraum ist, das darstellt, was qualitative Diagnostik von Rechenschwierigkeiten ist.

Friedrich H. Steeg, Volxheim, den 25.01.2004

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